26. Juli 2000

TIBET INFORMATION NETWORK

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Neue Beschränkungen der Religion bedrohen die tibetische Tradition

Die Behörden in Lhasa starteten eine neue Kampagne des harten Vorgehens gegen religiöse Betätigung, die härteste und am tiefsten in das Privatleben und die Traditionen der Tibeter eingreifende der letzten Jahre. Schülern in Lhasa wurde verboten, in den Sommerferien in Klöster oder Tempel zum Beten und zu religiösen Zeremonien zu gehen, und Thangkas wurden aus den Privathäusern verbannt. Sicherheitspersonal durchkämmte die Wohnungen der Leute auf der Suche nach Hausaltären, Dalai Lama Bildern und Weihrauchopfergefäßen.

Während verschiedene Kampagnen gegen Ausübung der Religion durch Laien bisher vor allem auf staatliche Angestellte und Parteimitglieder gerichtet waren, betreffen die neuen Verordnungen alle Bürger von Lhasa, mit besonderer Konzentrierung auf die in Privatunternehmen und der Tourismusindustrie tätigen Tibeter. Die neuen Maßnahmen wurden offensichtlich im Laufe der letzten Wochen bei einer Reihe von Versammlungen mündlich verkündet. Eine schriftliche Bekanntgabe dieser Restriktionen soll bisher noch nicht erfolgt sein.

Ein Tibeter aus Lhasa, der sich jetzt im Exil befindet, sagte: "Diese Kampagne beeinträchtigt nicht nur die religiöse Praxis der Tibeter, sie stellt vielmehr eine grundsätzliche Bedrohung für das Überleben der tibetischen Kultur und Tradition dar. Jede tibetische Familie hat üblicherweise einen Hausaltar oder einen Raum für Gebete in ihrem Heim, und das Verbrennen von Weihrauch ist häufig ein tägliches Ritual vor dem Familienschrein. Versuche der Regierung, auf diese Weise alle Formen der Verehrung in Privathäusern zu unterbinden, erinnern an die während der Kulturrevolution auferlegten Maßnahmen."

Nach zuverlässigen Berichten aus Tibet wurden Schüler von den Funktionären gewarnt, ihnen drohe die Ausweisung aus der Schule, sollten sie Klöster und Tempel aufsuchen. Schulkinder suchen um diese Zeit des Jahres häufig die Tempel auf, um für Erfolg bei ihren Prüfungen zu beten, und sie begleiten auch oft ihre Eltern auf Pilgerfahrten zu buddhistischen Heiligtümern.

Die Restriktionen religiöser Betätigung werden auch in anderen der Stadtverwaltung Lhasa unterstehenden Kreisen und Gemeinden durchgeführt. Berichte lassen darauf schließen, daß die Häuser der Leute in Gegenden wie Phenpo in Kreis Lhundrub (chin. Lingzhi) nach Hausaltären, Weihrauchopfergefäßen und Dalai Lama Bildern durchsucht werden. Einer Quelle zufolge finden solche Heimsuchungen der Privathäuser durch das Sicherheitspersonal meistens gegen zwei Uhr nachts statt.

Die Atmosphäre in Lhasa ist in den letzten Wochen besonders angespannt gewesen, was den immer härter werdenden Kurs des Staates gegenüber der Religionsausübung und hinsichtlich der Kontrolle in der Hauptstadt reflektiert. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden bereits letztes Jahr vor dem 40. Jahrestag des Nationalaufstandes vom 10. März verstärkt; sie wurden das ganze Jahr über nicht gelockert und waren am extremsten am 1. Oktober, dem Nationalfeiertag. Ein westlicher Tourist, der gerade aus Tibet kommt, berichtet TIN: "Viele Tibeter hofften, die Spannung würde etwas nachlassen, sobald die Periode der brisanten Jahrestage vorbei ist, doch statt dessen hat die Unterdrückung noch zugenommen." Die Maßnahmen zur Verhinderung der Feier des 65. Geburtstages des Dalai Lama am 6. Juli wurden dieses Jahr noch strenger gehandhabt als im vergangenen Jahr. Regierungsangestellten und Schülern war es, wie berichtet wird, verboten, den traditionellen lingkor (Pilgerweg um das Heiligtum Lhasas) während des buddhistischen Hauptfestes Sagadawa im Juni zu vollziehen.

Die chinesische Regierung behauptet in ihrem Weißbuch mit dem Titel "Die Entwicklung der tibetischen Kultur", das von Xinhua am 22. Juni herausgegeben wurde, die Tibeter besäßen Religionsfreiheit. "Der Staat respektiert und schützt die Rechte von Tibetern und anderen ethnischen Volksgruppen in Tibet, ihr Leben selbst zu gestalten und gesellschaftliche Aktivitäten nach ihren herkömmlichen Sitten auszuüben, sowie ihr Recht, normalen religiösen Aktivitäten frei nachzugehen und die wichtigeren religiösen und volkstümlichen Feste frei zu feiern... Die zentrale Volksregierung und die Regierung der Autonomen Region Tibet haben der Respektierung und dem Schutz der Freiheit des religiösen Glaubens und der normalen religiösen Betätigung des tibetischen Volkes schon immer besondere Aufmerksamkeit beigemessen."

Das Weißbuch warnt jedoch, daß von den Tibetern "rückständige" Glaubensäußerungen im Zuge ihrer Entwicklung zu einer "modernen Zivilisation" abgeworfen werden müßten. "In dem Maße, wie die Gesellschaft fortschreitet, wurden einige morsche, rückständige, alte Gebräuche..., die einen starken Beigeschmack des feudalen Leibeigenensystems tragen, aufgegeben, was das Streben der Tibeter nach einer modernen Zivilisation und einem gesunden Lebensstil, sowie die ständige Vorwärtsentwicklung der tibetischen Kultur in der neuen Ära widerspiegelt."

Ausrottung der rückständigen Glaubensanschauungen durch Stärkung der Basisorganisationen

Die neuen Restriktionen lassen auf eine weitere Verschärfung jener Regierungspolitik schließen, die sich die Ausmerzung aller Sympathien für den Dalai Lama unter den Tibetern und die Abschaffung der "rückständigen und abergläubischen" religiösen Überzeugungen zum Ziel gesetzt hat. Das scharfe Durchgreifen in Sachen Religion hängt mit der Entschlossenheit der Behörden zusammen, "soziale und politische Stabilität" zu erzielen, die ihrer Meinung nach für die erfolgreiche Durchführung der Wirtschaftspolitik zur Entwicklung und Modernisierung der Region entscheidend ist. Li Guangwen, ein Mitglied des Ständigen Ausschusses des regionalen Parteikomitees von Tibet, hob in einer kürzlichen Erklärung im tibetischen Fernsehen die Wichtigkeit der politischen "Stabilität" bei der gegenwärtig von Peking geführten Kampagne zur Entwicklung der "westlichen Regionen" Chinas, einschließlich Tibets, hervor. "Tibets verschiedene Reformmaßnahmen befinden sich gegenwärtig in der Schlüsselphase der Durchführung", sagte Li Guangwen bei einem Meeting in Kreis Gyantse (chin. Jiangzi) in der Präfektur Shigatse der TAR. "Wir haben jetzt die einmalige Chance im Leben zur großen Entwicklung der westlichen Regionen. Die Aufgabe, soziale und politische Stabilität zu wahren, ist sehr wichtig... Wir müssen fest den Kampf gegen den Separatismus, welcher unser Hauptwiderpart ist, anpacken, energisch eine umfassende Regelung für die öffentliche Sicherheit in Angriff nehmen und die Kräfte der gesamten Gesellschaft mobilisieren... um die separatistischen Aktivitäten und Sabotageakte der Dalai Clique zu verhindern und sie in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu bekämpfen" (Tibet TV, 13. Juli).

Bei derselben, am 11/12. Juli abgehaltenen Sitzung wurde der "Erfolg" der lokalen Gemeinde Gyantse bei der Ausrottung des "Separatismus" durch Stärkung der Basisorganisationen in der Region hervorgehoben. "Die Leute haben damit aufgehört, Dalai Bilder aufzuhängen, sie hören nicht mehr die ausländischen Radiosendungen ab, sie verbreiten keine üblen Gerüchte mehr und lehnen diese ab", stellte Tibet TV am 13. Juli fest. "In den letzten Jahren haben keine Kader oder Bürger des Kreises Gyantse mehr illegal den Ort verlassen, und keine Kader oder Bürger mehr ihre Kinder in die vom Dalai außerhalb der Region geführten Schulen geschickt. Der Landkreis hat mit den Kadern und Leuten des Kreises eine hohe Stahlmauer gegen den Separatismus errichtet."

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